Wie romantische Liebe zu einem kulturellen Kernstück westlicher Gesellschaften wurde und warum sie uns alle irgendwie fertig macht.
Übersetzt von Kai Hackemesser am 5.12.2020
Original: A Brief History of Romantic Love and Why It Kind of Sucks von Mark Manson
Erste Erkenntnis: Irgendwann im Laufe der Evolution zwischen Plankton und Bon Jovi entwickelten Affen die Fähigkeit, sich emotional aneinander zu binden. Diese emotionale Bindung würde irgendwann als „Liebe” bezeichnet werden, und die Evolution würde eines Tages eine Schar von Sängern aus New Jersey hervorbringen, die Millionen damit verdienen würden, kitschige Lieder darüber zu schreiben.
Zweiten Erkenntnis: Die Menschen entwickelten die Fähigkeit, sich aneinander zu binden — d.h. die Fähigkeit, einander zu lieben -, weil es uns half zu überleben. Das ist nicht gerade romantisch oder sexy, aber wahr.
Wir haben keine großen Reißzähne, keine riesigen Klauen oder ungeheure Körperkraft von Gorillas entwickelt. Stattdessen haben wir die Fähigkeit entwickelt, uns emotional zu Gemeinschaften und Familien zusammenzuschließen, in denen wir weitgehend dazu neigten, miteinander zu kooperieren. Diese Gemeinschaften und Familien erwiesen sich als weitaus effektiver als jede Klaue oder jeder Reißzahn. Die Menschheit dominierte bald den Planeten.
Dritte Erkenntnis: Als Menschen entwickeln wir instinktiv Loyalität und Zuneigung zu denen, die uns am meisten Loyalität und Zuneigung entgegenbringen. Liebe ist in Wirklichkeit nichts anderes als: ein irrationaler Grad an Loyalität und Zuneigung gegenüber einem anderen Menschen — bis zu dem Punkt, daß wir für diesen Menschen Schaden nehmen oder sogar für ihn sterben würden. Es mag verrückt klingen, aber es sind diese symbiotischen, warmen Flausen, die dafür sorgten, daß sich die Spezies lange genug aufeinander verließ, um die Savannen zu überleben, den Planeten zu bevölkern und Netflix zu erfinden.
Vierte Erkenntnis: Lassen Sie uns alle einen Moment innehalten und der Evolution für Netflix danken.
Fünfte Erkenntnis: Der altgriechische Philosoph Platon argumentierte, dass die höchste Form der Liebe eigentlich jene nicht-sexuelle, nicht-romantische Form der Bindung an einen anderen Menschen sei, jene so genannte „brüderliche Liebe”. Platon argumentierte (zu Recht), dass diese Art der leidenschaftslosen Liebe zwischen zwei Familienmitgliedern oder zwischen zwei engen Freunden der Höhepunkt der tugendhaften menschlichen Erfahrung sei, da Leidenschaft und Romantik und Sex uns oft zu lächerlichen Dingen verleiten, die wir bedauern. Tatsächlich betrachtete Platon, wie die meisten Menschen in der Antike, die romantische Liebe mit Skepsis, wenn nicht gar mit absolutem Entsetzen.
Sechste Erkenntnis: Wie bei den meisten Dingen hat Platon es vor allen anderen richtig verstanden. Und deshalb wird die nicht-sexuelle Liebe oft als „platonische Liebe” bezeichnet.
Siebte Erkenntnis: Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte wurde die romantische Liebe als eine Art Krankheit betrachtet. Und wenn man darüber nachdenkt, ist es nicht schwer herauszufinden, warum: Die romantische Liebe veranlasst Menschen (vor allem junge Menschen), dumme Sachen zu machen. Glauben Sie mir. Einmal, als ich 21 war, schwänzte ich den Unterricht, kaufte eine Busfahrkarte und fuhr durch drei Staaten, um ein Mädchen zu überraschen, in das ich verliebt war. Sie flippte aus, und ich saß bald wieder im Bus auf dem Weg nach Hause, genauso allein stehend wie damals, als ich kam. Was für ein Idiot.
Diese Busfahrt schien damals eine großartige Idee zu sein, weil sie mir so romantisch vorkam. Meine Gefühle spielten die ganze Zeit verrückt. Ich war in einer Fantasiewelt verloren und liebte sie. Aber jetzt ist es nur noch eine peinliche Sache, die ich gemacht habe, als ich noch jung und dumm war und es nicht besser wusste.
Es ist diese Art schlechter Entscheidungsfindung, die die Menschen der Antike skeptisch hinsichtlich des Nutzwertes romantischer Liebe machte. Stattdessen behandelten viele Kulturen sie als eine Art unglückliche Erkrankung, die wir alle in unserem Leben durchmachen und überwinden müssen, so ähnlich wie Windpocken. Tatsächlich waren klassische Geschichten wie die Ilias oder Romeo und Julia keine Zelebrationen der Liebe. Sie waren Warnungen vor den möglichen negativen Folgen der Liebe, davor, wie romantische Liebe möglicherweise alles ruinieren kann.
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte heirateten die Menschen nicht wegen ihrer Gefühle füreinander. In der Antike spielten Gefühle keine Rolle.
Warum?
Weil Gefühle scheißegal sind, es gibt Felder zu pflügen und Kühe zu füttern und meine Güte, Attila der Hunne hat gerade Ihre gesamte Großfamilie im nächstgelegenen Dorf massakriert.
Es war keine Zeit für Romantik. Und schon gar keine Zeit für Toleranz gegenüber den riskanten Verhaltensweisen, die sie unter den Menschen hervorrief. Es gab zu viel lebenswichtige Arbeit, zu erledigen. Die Ehe war für das Kinderkriegen und solide Finanzen gedacht. Romantische Liebe war, wenn überhaupt erlaubt, für das berauschende Milieu der Mätressen und Fickknaben reserviert.
Für den größten Teil der Menschheitsgeschichte, für die Mehrheit der Menschheit, hingen ihr Überleben und ihr Lebensunterhalt an einem dünnen Faden. Die meisten Menschen hatten eine kürzere Lebenserwartung als die Katzen meiner Mutter. Alles, was man tat, geschah nur des Überlebens wegen. Die Ehen wurden von Familien nicht arrangiert, weil sie sich mochten, und vor allem nicht, weil sie sich liebten, sondern weil ihre Bauernhöfe gut zusammenpaßten und die Familien etwas Weizen oder Gerste teilen konnten, wenn die nächste Flut oder Dürre kam.
Ehen waren rein wirtschaftliche Vereinbarungen, die das Überleben und den Wohlstand beider Großfamilien fördern sollten. Wenn Junior also das Kribbeln in der Hose bekommt und mit der Milchmagd am anderen Ende der Stadt weglaufen will, war das nicht nur eine Unannehmlichkeit, sondern eine legitime Bedrohung für das Überleben der Gemeinschaft. Und so wurde es auch behandelt. Tatsächlich war diese Art von Verhalten bei jungen Männern so gefährlich, daß die meisten antiken Gesellschaften vielen Jungen die Eier abschnitten, damit sie sich nicht mit deren Schürzenjägerei auseinandersetzen mußten. Dies hatte den Nebenvorteil, hervorragend klingende Knabenchöre hervorzubringen.
Erst im Industriezeitalter begannen sich die Dinge zu ändern. Die Menschen begannen, in den Stadtzentren und Fabriken zu arbeiten. Ihr Einkommen, und damit ihre wirtschaftliche Zukunft, wurde vom Land entkoppelt und sie waren in der Lage, unabhängig von ihrer Familie Geld zu verdienen. Sie waren nicht mehr wie in der Antike auf Erbschaften oder familiäre Verbindungen angewiesen, so dass die wirtschaftliche und politische Komponente der Ehe nicht mehr viel Sinn machte.
Die neuen wirtschaftlichen Wirklichkeiten des 19. Jahrhunderts kreuzten sich dann mit den Ideen, die aus der Aufklärung über individuelle Rechte und das Streben nach Glück entstanden, und das Ergebnis war ein ausgeprägtes Zeitalter der Romantik. Scheiß auf das Vieh, es war das 19. Jahrhundert, als die Gefühle der Menschen plötzlich eine Rolle spielten. Das neue Ideal bestand nicht nur darin, aus Liebe zu heiraten, sondern dass diese Liebe bis in alle Ewigkeit in Glückseligkeit weiterleben sollte. So wurde erst vor relativ kurzer Zeit, vor 150 Jahren, das allseits beliebte Ideal des „glücklich bis ans Ende aller Tage” geboren.
Dann wälzte sich das 20. Jahrhundert fort, und zwischen Hitler und einigen Völkermorden griffen Hollywood und Werbeagenturen nach dem Thema „Glücklich bis ans Ende aller Tage” und prügelten es in den nächsten 100 Jahren zu Tode.
Es geht hier darum, dass die Romantik und all das Gewicht, das wir ihr in der Regel beimessen, eine moderne Erfindung ist, die in erster Linie von einer Gruppe von Geschäftsleuten gefördert und vermarktet wird, die erkannt haben, dass man damit Kinokarten und/oder ein neues Schmuckstück verkaufen kann. Wie Don Draper einmal sagte: „Was Sie Liebe nennen, wurde von Leuten wie mir erfunden, um Nylonstrümpfe zu verkaufen”.
Romantik verkauft sich leicht. Wir alle genießen es zu beobachten, wie der Held das Mädchen bekommt. Wir genießen es, das Happy End zu sehen. Wir glauben gerne an „glücklich bis ans Ende unserer Tage”. Das ist ein gutes Gefühl. Und so nahmen es die im 20. Jahrhundert aufkommenden kommerziellen Kräfte auf und machten mit.
Aber romantische Liebe, und Liebe im Allgemeinen, ist weitaus komplizierter, als uns Hollywood-Filme oder die Werbung von Juweliergeschäften glauben machen wollen. Nirgendwo hören wir, dass Liebe unsexy sein kann. Oder dass Liebe manchmal unangenehm oder sogar schmerzhaft sein kann, dass sie möglicherweise sogar etwas sein kann, das wir manchmal gar nicht fühlen wollen. Oder dass Liebe Selbstdisziplin und ein gewisses Maß an anhaltender Bemühungen über Jahre, Jahrzehnte, ein Leben lang erfordert.
Diese Wahrheiten sind nicht begeisternd. Sie verkaufen sich auch nicht gut.
Die schmerzliche Wahrheit über Liebe ist, dass die eigentliche Arbeit an einer Beziehung erst dann beginnt, wenn sich der Vorhang schließt und der Abspann läuft. Die wirkliche Arbeit in einer Beziehung sind all die langweiligen, trostlosen, abtörnenden Dinge, die niemand sonst sieht oder schätzt. Wie die meisten Dinge in den Medien beschränkt sich auch die Darstellung der Liebe in der Popkultur auf die Glanzlichterrolle. Alle Nuancen und Komplexitäten des tatsächlichen Durchlebens einer Beziehung werden weggefegt, um Platz zu machen für die aufregende Schlagzeile, die ungerechte Trennung, die verrückte Wendung der Handlung und natürlich für jedermanns Lieblings-Happy-End.
Die meisten von uns sind in ihrem ganzen Leben von diesen Botschaften so überflutet worden, dass wir die Aufregung und das Drama einer Romanze mit der ganzen Beziehung selbst verwechseln. Wenn wir von der Romantik mitgerissen werden, können wir uns nicht vorstellen, dass zwischen uns und unserem Partner irgendetwas schief gehen könnte. Wir können ihre Fehler oder Misserfolge nicht sehen, wir sehen nur ihr grenzenloses Potenzial und ihre unbegrenzten Möglichkeiten.
Das ist keine Liebe. Das ist eine Wahnvorstellung. Und wie die meisten Wahnvorstellungen gehen die Dinge gewöhnlich nicht gut aus.
Was mich zu der achten Erkenntnis bringt: Nur weil man jemanden liebt, heißt das noch lange nicht, dass man mit ihm zusammen sein sollte.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der uns nicht gut behandelt, der uns dazu bringt, schlechter über uns selbst zu denken, der uns nicht den gleichen Respekt entgegenbringt wie wir vor ihm, oder der selbst ein so gestörtes Leben führt, dass Gefahr besteht, uns unter Wasser zu ziehen und mit ihm zu ertrinken.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der andere Ambitionen oder Lebensziele hat, die im Widerspruch zu unseren eigenen stehen, der andere philosophische Überzeugungen oder Weltanschauungen vertritt oder dessen Lebensweg sich zu einem ungünstigen Zeitpunkt lediglich in die entgegengesetzte Richtung schlängelt.
Es ist möglich, sich in jemanden zu verlieben, der für uns und unser Glück beschissen ist.
Aus diesem Grund wurde die Ehe während des größten Teils der Menschheitsgeschichte von Eltern arrangiert. Weil sie diejenigen waren, die eine objektive Perspektive hatten, ob ihr Kind ein Arschloch heiraten würde oder nicht.
Aber in den letzten Jahrhunderten, als junge Menschen sich ihre Partner selbst aussuchen konnten (was eine gute Sache ist), überschätzten sie instinktiv die Kraft der Liebe zur Überwindung aller Probleme oder Schwierigkeiten, die in ihren Beziehungen auftraten (was eine schlechte Sache ist).
Dies ist die Definition einer toxischen oder ungesunden Beziehung: Menschen, die sich nicht lieben für was sie sind, sondern vielmehr in der Hoffnung, daß ihre Gefühle füreinander ein schrecklich leeres Loch in ihrer Seele füllen werden.
Neunte Erkenntnis: Mit größerer persönlicher Freiheit geht ein größeres Bedürfnis nach Eigenverantwortung und Verständnis einher. Und 100 Jahre später gewinnen wir gerade erst die Fähigkeit, uns mit der Verantwortung auseinanderzusetzen, die Liebe mit sich bringt.
Menschen in toxischen Beziehungen lieben einander nicht. Sie lieben ein Ideal des anderen. Sie sind in die Fantasie verliebt, die sich ständig in ihrem Kopf abspielt. Und anstatt die Fantasie loszulassen und sich mit der Person vor ihnen zu arrangieren, verbringen sie ihren ganzen Willen und ihre ganze Energie damit, die Person vor ihnen zu interpretieren und anzupassen, damit sie in die Fantasie paßt, die sie für sich selbst immer wieder aufleben lassen.
Und warum?
Weil sie es nicht besser wissen. Oder weil sie Angst vor der Verletzlichkeit haben, die nötig ist, um jemanden selbstlos und gesund zu lieben.
Vor ein paar Jahrhunderten haßten die Menschen die romantische Liebe. Sie hatten Angst vor ihr, waren skeptisch gegenüber ihrer Macht und waren es leid, daß sie jeden, den es erwischte, zu schlechten Entscheidungen verleiten konnte.
Damals, vor ein paar Jahrhunderten, frei von der Enge des Bauernhofs und der zustimmenden oder ablehnenden Meinung von Mama und Papa, überschätzten die Menschen die Liebe. Sie idealisierten sie und wollten, dass sie alle ihre Probleme und Schmerzen für immer wegspült.
Aber die Menschen beginnen erst jetzt herauszufinden, dass Liebe zwar großartig ist, dass Liebe allein aber nicht ausreicht.
Dass Liebe nicht die Ursache für Ihre Beziehungen sein sollte, sondern vielmehr deren Wirkung. Diese Liebe sollte unser Leben nicht bestimmen, sondern eher ein Nebenprodukt davon sein. Nur weil jemand Ihnen das Gefühl gibt, lebendiger zu sein, heißt das nicht, dass Sie unbedingt für ihn leben sollten.
Niemand spricht darüber, dass größere persönliche Freiheit größere Gelegenheiten bietet, Dinge zu versauen. Und es schafft größere Möglichkeiten, andere Menschen zu verletzen. Die große Befreiung der romantischen Liebe hat unglaubliche Lebenserfahrungen in die Welt gebracht. Aber sie hat auch die Notwendigkeit eines realistischen, ehrlichen Umgangs mit Beziehungen mit sich gebracht, der den schmerzlichen Realitäten eines gemeinsamen Lebens Rechnung trägt.
Einige Leute sagen in diesem Zeitalter des Ghostings und des Rechts-wischens, die Romantik sei tot. Doch Die Romantik ist nicht tot. Sie wird lediglich aufgeschoben — an einen sicheren Ort verbannt, wo beide Menschen ein gewisses Maß an Trost und Vertrauen aufbauen müssen, bevor sie gegenseitig verrückt aufeinander werden.
Und vielleicht ist das tatsächlich eine gute Sache.