Original: In the Twilight Zone vom 6. August 2002
Uebersetzt von Kai Hackemesser August 2002
Einbrüche in den westlichen Kapitalmärkten würden düstere Zeiten wirklicher wirtschaftlicher Not erahnen lassen, behauptet Dr. Marc Faber
Ich habe bereits früher begründet, daß das Fehlen jeglichen Grundlagenwissens über die Zukunftsaussichten und Gewinne der gelisteten Unternehmen nicht nur auf das Internet und den TMT-Bereich (Technologie, Medien und Telekommunikation) zutrifft, sondern auf die meisten Unternehmen.
Für mich war klar, daß das Internet eine Welt des „reibungslosen Kapitalismus” hervorbringen würde, welcher wiederum die Unternehmensgewinne drücken würde, da die meisten Unternehmen einen guten Anteil ihrer Profite aus dieser Reibung gewannen. Reibung inflationiert die Preise, reduziert die Rivalität und schützt die Margen.
Die gewinnfreundliche Reibung kommt in vielerlei Gestalt. Unwissenheit des Kunden ist vermutlich der wichtigste Faktor, andere sind örtliche Monopole und der Mangel an Verhandlungsgeschick der kleineren Unternehmen. Es war eindeutig so, daß das Internet viel mehr Transparenz in die Märkte gebracht hat und diese Reibungen weitgehend beseitigt hat, während B2B-Knoten es kleineren Unternehmen viel leichter gemacht hat, sich zusammenzuschließen und Zugeständnisse ihrer Lieferanten zu erzwingen — wozu zuvor nur große Unternehmen in der Position waren.
Und obwohl Ich seinerzeit schrieb, daß ich glaube, eine Zeit der sehr enttäuschenden Unternehmensgewinne habe begonnen, habe ich eine Form der Reibung übersehen, welche mit der gesellschaftlichen Grundstimmung der Anlegergemeinde zusammenhängt — oder, um es zu vereinfachen, mit deren Unwissenheit und grenzenloser Leichtgläubigkeit.
In den späten 90ern waren Unternehmen in der Lage, gewaltige Gewinnsteigerungen zu verbuchen, weil es einfach kaum jemanden interessiert hat, wie diese Gewinne erzielt wurden. In anderen Worten wurde die Anlegergemeinde — gefangen in einem Wirbelwind der Spekulation und geblendet durch die bullischen Kommentare der Geschäftsführer, Analysten und Mr. Greenspan — darauf ausgerichtet, alle Arten von Buchhaltungstricks, Aktienrückkäufe auf Kredit, gefährliche spekulative Anlagepositionen und sogar blanken Betrug, um die Gewinne anzukurbeln, zu ignorieren.
Die Situation in den 90ern verkörpert, was der französische Soziologe Gustave Le Bon mehr als 100 Jahre zuvor in seinem Klassiker „Psychologie der Massen” beobachtet hat, als er schrieb, daß die Masse „nicht vorbereitet ist, zuzugeben, daß irgendetwas zwischen ihren Willen und die Realisierung ihres Willens kommen kann”, während „die Idee der Unmöglichkeit für das Individuum in der Masse verschwindet”. Solange die Aktien stiegen, hat sie niemand wirklich gesorgt.
Die gesellschaftliche Grundstimmung als Quelle der Reibung, welche Aktienkurse und Unternehmensgewinne ankurbeln kann, wurde exzellent von Robert Prechter in seinem sehr einsichtigen Bericht „The Socionomic Insight versus the Assumption of Event Causality” im The Elliott Wave Theorist analysiert. Prechter zufolge waren die jüngsten Enthüllungen von Unternehmensbetrug inklusive dem Enron-Skandal, „nicht kausal gegenüber irgendeiner Richtung von gesellschaftlicher Stimmung, sie waren das Ergebnis einer Änderung der gesellschaftlichen Grundstimmung”.
Er hat zu Recht hervorgehoben, daß der Aktienmarkt schon Monate vor dem Enron-Skandal fiel, da „Dieses Meßinstrument der gesellschaftlichen Grundstimmung [des Aktienmarktes] zunehmende Negativität zeigte — in Verbindung mit Konservativität, Verdacht, Sorge, Wut und Defensive — und all dies zusammen verursachte nebenbei den Enron-Skandal”. Tatsächlich behauptet Prechter, daß der Enron-Skandal die Anleger überhaupt nicht entmutigte, da nach der Enthüllung des Skandals im Oktober letzten Jahres der Aktienmarkt stieg und die bullische Einstellung der Anleger auf Rekordwerte anstieg, während gleichzeitig das Verbrauchervertrauen deutlich zulegte.
Prechter bemerkte auch folgendes: Die Untaten der Unternehmen sind nicht einmal für den Bärenmarkt verantwortlich zu machen, welcher dem Hervorbrechen des Enron-Skandals voraus lief. Die Unternehmensuntaten waren während der 90er in voller Blüte und trotzdem kam es nicht zu Skandalen. Tatsächlich kann man diesen Untaten — Ponzi-artige Buchhaltungsmethoden — steigende Aktienkurse und gemästete Pensionspläne gleichermaßen anrechnen, wie man ihnen die Schuld am Zusammenbrechen und deren Plünderung zuschreibt.
Die wahre Anrechenbarkeit für beide Trends in den Aktienkursen ist gleich null. Angerechnet werden muß es einem Wechsel in der Massenpsychologie. Zahlreiche Buchhaltungsungereimtheiten fanden seit Jahren statt, und über sie wurde hin und wieder berichtet, manchmal in den großen Magazinen, aber während des Bullenmarktes hat es wenige interessiert. Das war ein über ein Jahrzehnt andauerndes Fehlverhalten, aber es gab keinen Skandal bis gut eine Weile nachdem der Trend gewechselt hatte.
Solange der Trend aufwärts zeigte, haben die Leute die Buchhaltungsblendung ignoriert; als der Trend die Richtung wechselte, begannen sie nachzuforschen. Solange der Trend aufwärts zeigte, unterstützte die Philosophie die Illusion der Unternehmensgesundheit, als der Trend kippte, schwand die psychologiegeförderte Unternehmensgesundheit rapide.
Und wieder ist die Kausalformel das Gegenteil des üblichen Glaubens: Die Missetaten der Unternehmen haben nicht die Aktienkurse zusammenbrechen lassen; die zusammengebrochenen Aktienkurse haben letztendlich den Schleier über den Untaten der Unternehmen gelüftet. Was hat denn dann verursacht, daß die Untaten der Unternehmen zuvor derartig zugenommen hatten? Die Massenpsychologie des Aktienmarktes, welche aufs extremste unskeptisch war, lud die Unternehmen geradezu zum „kreativen Buchführen” ein und belohnte sie dafür sogar. Es war die psychologische Umwelt des Bullenmarktes, welche am Anfang die Unternehmen zum Fehlverhalten verleitete.
Obwohl ich weniger dogmatisch als Prechter bin, wenn es um gesellschaftlichen Stimmungen als Ursache für politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ereignisse geht, und obwohl ich glaube, daß die Ursache und die Wirkung regulär schwer wahrzunehmen sind und sich bei jeder Gelegenheit gegenseitig verstärken, stimme ich ihm bereitwillig zu, daß durch eine optimistische und vertrauensselige gesellschaftliche Grundstimmung wie in den späten 90ern der Kontakt zur Realität verloren geht, daß sorgfältige Analysen und Warnungen in den Wind geschlagen werden, was zu expandierenden KGVs und exzessiven Bewertungen führt, und wenn die Stimmung sich verschlechtert, folgt eine Phase der Ernüchterung und Skepsis der vorhergehenden Euphorie, welche mit der Zeit zu deutlich niedrigeren Bewertungen führt.
Der Punkt ist, daß in den späten 90ern und bis vor Kurzem Anleger leichtgläubig nach Extremen griffen, weil jeder — Unternehmensführer, das Establishment der Wall Street, die Fonds-Industrie, die Buchhalter und Rechnungsprüfer, die Berater der Pensionsfonds und am meisten die Regierung — ein berechtigtes Interesse daran hatten, den „Enthusiasmus” und das „Interesse” der Anleger während einer Flutwelle an Lügen zu erhalten, um die Aktienkurse steigen zu lassen und das Platzen der Bubble-Wirtschaft zu vermeiden.
Wie anders können wir erklären, warum so viele Firmen einschließlich IBM und Tyco sich so gut in einem fallenden Markt haben halten können, bis zum Anfang dieses Jahres, als es bereits allgemein bekannt war, daß bei deren Buchhaltungsmethoden einiges fragwürdig sei?
Ich habe an anderer Stelle die Rolle der Propaganda in der Manipulation der Massen und ihres Glaubens besprochen, aber ich möchte hier besprechen, was zwei Diktatoren des 20. Jahrhunderts, Hitler und Mussolini, darüber geschrieben haben, wie man Massen bewegt. Ihnen zufolge müssen die Massen ohne Unterlass mit Propaganda bombardiert werden. Des weiteren würden die Massen mit ihrem primitiven Verstand viel eher Opfer einer „große Lüge” als einer „kleine Lüge”, weil es für das Volk üblich sei, in kleinem Maßstab zu lügen, während der Durchschnittsmensch zu schüchtern für große Lügen sei. Deswegen würde die Masse niemals überhaupt in Betracht ziehen, daß jemand rücksichtslos genug sei, die Wahrheit in solch extremen Grade zu verdrehen. Überdies würden, wenn später die Wahrheit aufgedeckt würde, Zweifel daran bleiben.
Deswegen bin ich nicht überrascht, daß die Anleger, obwohl sie die Integrität des amerikanischen Unternehmertums und seiner Verbündeten (Rechnungsprüfer, Investmentbanken usw.) zunehmend hinterfragen, bis jetzt übersahen, die Integrität des gesamten Finanzsystems zu hinterfragen, welches von unseren Regierungen und Zentralbanken geschaffen wurde! Tatsächlich verwundert es mich, daß die Leute glauben, der ganze Privatsektor lügt, betrügt und fälscht seine Bücher, und zur gleichen Zeit annehmen, daß die Regierung sich ethisch und verantwortlich verhält und nicht ihre Bücher und Statistiken fälscht!
In den meisten Ländern macht die Regierung 20–30% der Volkswirtschaft aus. Deswegen sieht es für mich so aus, daß die Anleger annehmen, daß 70–80% der Volkswirtschaft, für welche die Privatwirtschaft Rechenschaft ablegt, nur mehr oder weniger ehrlich sei, aber daß die 20–30% der Volkswirtschaft, welche in den Händen der Regierung ist, sauber und ethisch.
Aber wie könnte die kolossale Täuschung der Anleger Ende der 90er durch das Unternehmertum Amerikas, welche bis heute anhält, möglich gewesen sein, wenn sie durch die Regierung und ihre Behörden nicht abgesegnet oder sogar dazu aufgemuntert wurde? Vergessen Sie nicht, daß die Nasdaq-Blase von 1999/2000 nur durch die Politik des leichten Geldes des Federal Reserve Board der USA möglich gemacht wurde.
Und warum hat die US-Regierung nun zusätzliche Mittel bereitgestellt, um die Zahl der SEC-Ermittler zu erhöhen, mehr als zwei Jahre nachdem der Bärenmarkt begann, während sie nichts tat, um die Unternehmensführung in den 90ern zu hinterfragen? Es ist offensichtlich daß in jedem Land die Regulatoren, welche in den USA in den 90ern so versagt haben, Teil der Regierung sind. Wir müssen natürlich auch der Regierung misstrauen, einschließlich der FED und allen anderen Regierungsbehörden, dem IWF, der Weltbank und so weiter, genauso wie dem Wirtschaftssektor, da große Gesellschaften haben viel damit zu tun, wer gewählt wird, wehr welchen Posten in der Regierung bekommt.
Charles Allmon, der Verfasser einer exzellenten Nachrichtenübersicht (P.O. Box 15381, Chevy Chase, Maryland 20825) kommentierte kürzlich die „Große Buchführungs-Farce”, in welcher er der amerikanische Unternehmertum und die Regierung in die Pflicht nahm, weil sie den privaten Anleger nicht schützen. Er schrieb: „Kann mir bitte jemand sagen, wer heute nach dem privaten Anleger sieht? Wer denn?
Während ich dies schreibe, scheint es, daß die USA die beste Regierung hat, die man für Geld kaufen kann. Geld strömt nach Washington, um die Buchführungs-Farce aufrecht zu erhalten” Dies ist übrigens teilweise Wahrheit für die Bush-Regierung, deren Vizepräsident Dick Cheney früher für Haliburton verantwortlich war — eine Firma, die nun wegen ihrer aggressiven Buchführung in jener Zeit unter Staatsaufsicht steht, als er deren Generaldirektor war!
Tatsächlich ist meine Hauptsorge, wie ich bei anderer Gelegenheit schrieb, die Möglichkeit systematischer Risiken, die fortwährend von der Regierung verheimlicht werden — Zeugen wie Paul O’Neill, der Finanzminister, versuchen die Öffentlichkeit von der Stärke und soliden Basis der US-Volkswirtschaft zu überzeugen. Am 16. Juni 2002 sagte er, daß er nicht wisse, warum die Märkte da sind, wo sie heute seien und daß sie „vermutlich eher früher als später wieder steigen werden. Es gibt da eine unglaubliche Bewegung im Markt, die, wie ich glaube, keine substanziellen Informationen hat.”
Insbesondere sollten wir besorgt sein wegen der fortwährenden rapiden Kreditexpansion (2001 hat das Volkseinkommen der USA um 179 Milliarden Dollar zugenommen, die Kredite außerhalb des Finanzsektors um 1,1 Billionen Dollar, und die Schulden im Finanzsektor um 916 Milliarden Dollar — in anderen Worten wuchsen die Schulden zehnmal schneller als das Bruttosozialprodukt), der Verfall der Kreditqualität (Der Börsenwert von Ford ist auf 7,4 Milliarden Dollar gefallen, 1999 lag er bei 28 Milliarden Dollar, während ihre Schulden auf 165 Milliarden Dollar gestiegen sind) das Versagen, die Unausgeglichenheit in der Außenhandelsbilanz der USA zu korrigieren, und die gigantischen Derivativ-Positionen, welchen die Finanzinstitute ausgesetzt sind, wo einige tickende Buchführungsbomben früher oder später noch hochgehen werden. Wenn die Buchprüfer nicht einmal einige relativ einfache Buchführungstricks entdecken können, wie ist es uns dann möglich zu erwarten, daß sie die Komplexität einer ordentlichen Buchführung im Derivatemarkt verstehen?
Es ist offensichtlich, daß die US-Regierung und ihr Lakai, die FED, verzweifelt versuchen, das System vor dem Kollaps zu bewahren, indem sie „Geld drucken” (während das BSP 2001 um 179 Milliarden Dollar wuchs, stieg die Geldmittelversorgung um 883 Milliarden Dollar), indem sie die kurzfristigen Zinsen künstlich tief halten, indem sie auch den Immobilienmarkt und den Konsum durch staatsgeförderte Unternehmen wie Fannie Mae subventionieren.
Überdies besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß das „Plunge Protection Team” hin und wieder eingreift, um den Aktienmarkt zu stützen und den Goldmarkt herunterzudrücken. Und während die Regierung die Unternehmen dazu auffordert, transparenter zu werden, wird die Transparenz ihrer selbst und ihrer Agenturen fortwährend zwielichtiger.
Das Problem mit diesem aktuellen Bedingungen ist, daß es Voraussagen noch schwieriger macht, weil man nicht nur mit der Volkswirtschaft klarkommen muß; das kapitalistische System und der Marktmechanismus sind — wenn auch nicht völlig vorhersehbar — doch wenigstens verständlich.
Die aktuelle Situation ist eine der ständigen statistischen Revisionen, hedonischen Anpassungen (Kurt Richebächer vom Richebächer-Brief, Telefon 1–508-368‑7498, zufolge stiegen die Ausgaben für Computer für die sechs Monate bis zum 31. März 2002 von 78,5 Milliarden Dollar um 4,9 Milliarden auf 83,4 Milliarden Dollar, aber die hedonische Anpassung verbessert diesen leichten Anstieg in einen gewaltigen Anstieg von 265,7 Milliarden Dollar um 44,4 Milliarden auf 310,1 Milliarden Dollar) und fortwährenden Interventionen in und Übertünchungen der wahren Probleme des internationalen Kapitalmarktes und der globalen Wirtschaft durch die Regierungen rund um die Welt. Aber wie Friedrich Hayek hervorhob, „Je mehr der Staat ‚plant’, desto schwieriger wird es für den einzelnen zu planen.”
In diesem Geiste möchte ich unsere Leser noch einmal warnen, extrem skeptisch jeglichen Voraussagen einschließlich unserer zu sein. Die Märkte werden kurzfristig wahrscheinlich noch unvorhersagbarer und volatiler werden als in den letzten paar Jahren
Zweifellos werden die gewaltigen Finanzspritzen der Zentralbanken rund um die Welt (nicht nur in den USA sondern ebenfalls vor kurzem in Japan) in den letzten 18 Monaten, von welchen man ausgehen kann, daß sie entsprechend der monetaristischen volkswirtschaftlichen Ideologien der Zentralbankiers unendlich weiter gehen werden, von Zeit zu Zeit starke kurzfristige Aktienmarktrallies auslösen, aber langfristig müssen wir weitere volkswirtschaftliche Verhaltensstörungen erwarten.
Deswegen wird vielleicht volkswirtschaftliches Leid in nie gesehenem Ausmaß in den westlichen Industrieländern folgen, und der jetzige Bärenmarkt wird wahrscheinlich nicht enden, bevor eine oder mehrere größere Finanzinstitutionen zusammengebrochen sind.